Sehhunger oder warum sie noch malen, die Maler
Bei der Suche nach neuem Genuss gleichen sich kochen und malen in interessanter Weise. Welcher Augenschmaus sättigt Ihren Sehhunger?
Auf die Frage, wie er sich immer wieder motiviere, neue Rezepte zu kreieren, antwortete Johann Lafer einmal, dass er vor allem gerne esse und immer gespannt sei, neue Kombinationen zu schmecken.
Für die Kunstschaffenden in der bildenden Kunst hieße das entsprechend, dass wir uns die Lust am Sehen und Denken bewahren sollten. Oder gar von der Sehnsucht danach getrieben sind. Stets Sehhunger in uns spüren.
Neues sehen zu wollen bildet demnach die Basis, Neues malen zu können.
Dabei geht eine neue Komposition nicht auf das Sehen eben einer bestimmten gesehenen Komposition zurück. Vielmehr löst Gesehenes in sehhungrigen Menschen ein neues Denken aus. Irgendwann raufen sich gesehene Linien zu neuen Kompositonen zusammen- zuweilen über Wochen und manchmal mit einem so langen Weg, dass von dem „Auslöserbild“ nichts mehr übrig ist.
Ich selbst erlebe diesen Sehhunger. Wie schätzen Sie das ein – sind Sie augenblicklich sehhungrig? Ich für meinen Teil stibitze immer noch meiner Frau ihre Zeitschriften und durchwühle sie nach Bildern, die funktionieren. Immer noch surfe ich wild zwischen Künstler- und Fotografenseiten hin und her und schaue mich hungrig um. Für Sehhungrige scheint das Internet ein Schlaraffenland.
Die Suche nach Augenschmaus – zwischen Hunger und Sucht
Wann und wodurch Sehhungrige wohl zu Sehsüchtigen werden? Vielleicht hat sich ja jemand bloß verschrieben, als er einem Künstler „Sehnsucht“ attestierte? Und einszwei hatte der Begriff eine Bedeutung für jedermann und jedefrau, gleich wie kunstschaffend sie in ihrer Seh(n)sucht war.
Oft ist es ja nur ein Bildausschnitt, ein Detail – entscheidend bleibt jedoch das „Einfangen des Blickes“ durch das Gesehene und das Fangen der gleich kommenden Gedanken.
Gute Bilder sprechen nicht immer die Erfahrungen des Betrachters an, sie fangen vielmehr die Gedanken ein, die er in wenigen Augenblicken erst haben wird.
Ein Bild ist ein gutes Bild, wenn es gleich die Gedanken und Blicklinien bestimmen wird. In diesem Moment wird sein Hunger danach, Neues (oder Besonderes / Anmutiges usw.) zu sehen, befriedigt. Anders ist es, wenn die oder der Sehende nicht hängen bleibt am Bild (egal ob mit den Augen, mit den Gedanken oder später mit der Erinnerung). Dann wird es für sie und ihn kein funktionierendes Bild. Und geht es dem Bild bei vielen Sehenden so, dann ist es kein gutes.
Gute Bilder sind sättigend und appetitanregend zugleich
Ein gutes Bild ist in der Lage, die baldige und spätere Erinnerung zu beeinflussen. Es wird uns fangen und Erinnerungen hervorrufen. Es lässt uns Vergleiche anstellen und Farben fühlen. „Gute Bilder sind wie Kletten im Kopf, man kriegt sie nicht mehr aus den Augen“ (Brill, 2008).
Somit ist ein gutes Bild visionär. Es bestimmt ein klein wenig die Zukunft des / der Sehenden mit, wenn es gut ist. Ein Bild kann somit gerechter Weise nur aus der Zukunft heraus bewertet werden. Nicht betrachtend, sondern nur rückbetrachtend.
Kunst: erst morgen wissen, was gestern gut war.
Aus der Kunstgeschichte wissen wir, dass manche Bilder etliche Geduld brauchten, bis sie die Erinnerung der Betrachter zuverlässig beeinflussen konnten. Andere warten noch.
Die Kunstschaffenden dürfen diese unsichere Zukunft eines Bildes nicht allzusehr in den Vordergrund ihres Gestaltens stellen. Vielmehr sollten sie aus dem Gesehenen schöpfen und aus ihm heraus schöpferisch sein. Dann geht es ihren Bildern wie den Jahreszeiten, die aus dem Schöpfen, was war, um Neues zu schaffen.
„Maler zu sein bedeutet, aus Gesehenem immer wieder Neues zu schaffen. Maler brauchen Sehhunger, um malen zu können.“ (Brill 2008)
„Ich hab mich an dir satt gesehen.“ Dieser Satz kann nur von einem Kunstschaffenden stammen, der sich aufmacht zu Noch-nicht-Gesehenem. Die Bilder selbst können nichts dafür, für sie ist dies keine Beleidigung. Bilder lassen sich nämlich kaum durch individuelle Aussagen bewerten. Sie brauchen eher ein breites Publikum. Erst nach zahlreichen Misserfolgen bzw. Erfolgen beim Übernahmeversuch der Gedanken, der Blicke und der Erinnerung lässt sich auf ihre Qualität Rückschlüsse ziehen.
Ich selbst bleibe sehhungrig, merke ich. Meine innere Gier nach Bildern wächst derweil im gleichen Maße wie mein Ideenbuch. Ich werde unruhiger. Ab und an hab ich vielleicht zuviel Sehkost zu mir genommen und torkele durch twitter und pinterest.
Danach muss ich mich mal wieder bewegen, mich auf den Pinsel schwingen, könnte die Leinwand hochgehen oder zumindet ein paar Bahnen ziehen.
So wünsche ich am Ende: Kosten Sie weiter alle Bilder im Kopf. Sehen Sie sich nicht satt. Genießen Sie den Augenschmaus. Bleiben Sie sehhungrig.