Die Zeitmacht des Kunstwerkes. Oder warum ich male.
Auch die Bildende Kunst unterliegt in faszinierender Art der Kategorie Zeit. Dabei geht es mir hier nicht um die Zeit, die man benötigt, um ein Werk zu schaffen. Diese ist äußerst unterschiedlich. Und sie gibt schließlich kaum Aufschluss über das Endprodukt. Hier geht es mir vielmehr um die Zeit und den Moment des Kunstbetrachtens.
Inwieweit beeinflusst mein Werk das Zeitempfinden der Konsumierenden? In dieser Frage gibt es enorme Unterschiede zwischen den Kunstmedien. Auf einer Zeitleiste bildet zum Beispiel der Film feste Vorgaben für den Zuschauer. Ganz anders als Produkte der Bildhauerei, der Malerei oder der Fotografie. Der Film drängt den Blick in seinem Tempo weiter. Das Foto jedoch lässt dem Blick alle Zeit, die er braucht und will.
Egal ob der Schnitt des Films reduziert und langsam ist oder wie lange die Einstellungen sind. Einem Film ist nichtsdestotrotz eigen, fortlaufend veränderte Bilder zu zeigen. Der Film lässt den Einzelbildern nicht die Zeit, nach Ermessen des Schauenden intensiv betrachtet zu werden. Sondern er hetzt fortlaufend die Gedanken des Betrachtenden weiter.
Die Zeitmacht der Kunst
Beim Film bestimmt das Kunstwerk selbst, wie lange die Betrachtungszeit einer Einstellung ist. Der Film bestimmt sogar die Gesamtzeit der Betrachtung des Zuschauers oder der Zuschauerin. Zumindest wenn sich die Zuschauerin oder der Zuschauer das Werk ganz anschaut. Sowohl in der Summe als auch bei den einzelnen Bildern gibt das Video also die Zeit vor. Anders gesagt, der Film bevormundet die zeitliche Selbstbestimmung der Zuschauerinnen und Zuschauer.
Gemälde und Fotos sind im Gegensatz dazu sozusagen statische Ergebnisse bildender Kunst. Sie ermöglichen dem Betrachter und der Betrachterin in Sachen Zeitgestaltung fortwährend ein selbstbestimmtes Betrachten. Wenn man so will, sind statische Kunstwerke in Bezug auf die Zeit großzügiger als der Film.
Denn Fotografien, Plastiken und Skulpturen oder Gemälde lassen die Betrachtenden entscheiden. Die Rezipierenden bestimmen, wann sich der Blick auf einen Ausschnitt richtet oder wie lange er an einem Detail verweilt. Die Zeitmacht bleibt entsprechend beim Zuschauer und bei der Zuschauerin. Im Unterschied dazu flattern beim Film-Video die Bilder weiter. Die Macht über die eigene Blickzeit ist bei den statischen Kunstwerken ungleich höher als beim Film.
Maler lassen dem Betrachter volle Zeitfreiheit.
Als Zeitverzögerer genieße ich diese Freiheit.
Das Standbild, das es beim heimischen Zuschauen als Zusatzmöglichkeit gibt, reduziert die Gängelung des Filmes ein wenig. Bei Videoinstallationen im Museum oder im Kino fehlt diese Möglichkeit ganz. Auch der Stillprint eines Videos kann als Reaktion der Filmemacher auf die fehlende Zeitfreiheit gesehen werden, um der Vergänglichkeit des Filmmomentes Herr zu werden. Der Vergänglichkeit des Blickmomentes folgt der Drang, das einmal gewählte Programm lückenlos zu verfolgen.
In meinen Augen sind dadurch Film und Fernsehen die Medien unserer Zeit mit dem höchsten Beschleunigungsgrad. Sie nehmen dem Betrachter weitgehend die Möglichkeit, selbstständig innezuhalten oder sich selbst Details auszusuchen. Selten nur erlaubt es der Film, den Blick schweifen zu lassen. Er verwehrt den Betrachtenden beliebig viele Male oder beliebig lange eine Einstellung zu sehen. Film und Fernseher nehmen dem Betrachter die Zeitmacht über ihren Blick.
Ein Zeitungsartikel lässt sich mehrmals lesen. Ein Foto lässt sich bei unterschiedlichem Licht und veränderter Perspektive und Nähe betrachten. Auf ein Gemälde kann man sich in unterschiedlichen Stimmungen einlassen – mit unterschiedlichen Ausschnitten. Genau so ist es auch mit Internetartikeln, Emails, Zeitschriften. Sie alle ermöglichen einen selbstbestimmten Umgang.
Beim Fernsehen hingegen wechselt die Zeitmacht von der Nutzerseite hin zum Medium. Darin steckt die Gefahr der Zeitentfremdung und letztlich einer Beschleunigung. Bleibt nur die Hoffnung – zum einen auf die Entschleuniger unter den Filmemachern und zum anderen auf die Mündigkeit selbstbestimmender Zuschauer und Zuschauerinnen.
Mit welcher Begrifflichkeit lässt sich der unterschiedliche Umgang mit Zeit beschreiben?
Bei erzählenden Texten unterscheiden Literaturwissenschaftler erzählte Zeit und Erzählzeit. Erzählte Zeit meint die Zeitspanne, die innerhalb der Geschichte erzählt wird, z. B. von der Geburt bis zum Tod eines Menschen: vielleicht 60 Jahre. Erzählzeit meint demgegenüber die Zeit, die man zum Rezipieren oder Rezitieren dieses Textes braucht, z. B. zwei Stunden. Zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit entsteht ein Verhältnis, das über Zeitsprünge und Zeitdehnungen Auskunft geben kann. Diese Unterscheidung klappt auch beim Film.
Statische Werke der Bildenden Kunst zeigen aber in der Regel kein Geschehnis, das auf einer Zeitskala abgebildet werden kann. Daher ist diese Unterscheidung hier unbrauchbar. Man bräuchte eine Kategorie wie „Betrachtungszeit“. Und hier ist der eigentliche Unterschied identifizierbar.
Beim Film ist die Betrachtungszeit als SOLL vorgegeben, bei den statischen Kunstwerken ist die Betrachtungszeit offen.
Sicher geht auch von statischen Produkten bildender Kunst der Versuch aus, die Blicke der Betrachterin und des Betrachters zu binden. Auch diese Werke versuchen, Zeitmacht über die Rezipienten zu erlangen. Es könnte jemand meinen, dass die Betrachtungszeit einer schwierig zu lösenden optischen Täuschung tendenziell höher liegen könnte als bei einem Monochrom-Blau eines Yves Klein. Aber die Stärke der selbstbestimmten Zeit statischer Werke wird hier deutlich. Man weiß es eben nicht, wie der Betrachter und die Betrachterin mit meinem Werk umgeht.
Natürlich kann auch ein Kinozuschauer rausgehen und die Fernsehzuschauerin ausschalten. Mich fasziniert jedoch die Macht über die Zeit trotz intensiver Beschäftigung mit der Kunst. Maler, Fotografen und Bildhauer lassen uns nämlich alle Zeitmacht. Selbst wenn wir uns auf ihr Werk einlassen.
Darüber hinaus gefällt es mir als Zeitverzögerer, dass z. B. bei der Malerei die Herstellungszeit nicht zurückverfolgt werden kann. In Kunstwerken der Malerei stecken manchmal Minuten und manchmal Jahre. Das Verhältnis Malzeit – Betrachtungszeit ist demgemäß außerordentlich vielfältig. Wenn’s gut läuft, gelingt es mir mit einem Bild (gleich ob es in Minuten oder Jahren geschaffen wurde), den Blick für einen Moment zu fangen. Im besten Falle gelingt es einem Bild, die Gedanken und das Interesse der Betrachterin und des Betrachters nachhaltig zu fangen und ihn somit eine längere Zeitspanne zu beschäftigen.
Selbstbestimmte Zeit
In Sachen Gemälde ist die Betrachtungszeit resümierend eine selbstbestimmte. Betrachtet eine Kunstinteressentin ein Bild von mir, bleibt die Frage: Wie lange betrachtet sie das Bild? Denkt sie darüber nach? Über welche Zeitspanne lässt sie sich auf das Bild ein? Kommuniziert sie mit dem Bild und auch über das Bild? Wie lange wird die Erinnerung daran anhalten?
Diese Betrachtungszeit kann sich jedoch auch splitten und muss nicht „am Stück“ aufgebracht werden. Wiederholte kurze Momente, in denen der Blick gefangen wird, summieren sich zu einer Gesamt-Betrachtungszeit.
Die Zeit auf Seiten des Rezipienten (für das Betrachten eines Kunstwerkes, für die Gedanken darüber oder später für die Erinnerungen daran) könnte nach all diesen Gedankengängen auch ein Qualitätskriterium für Kunst werden.
Zeit als Kunstkriterium? – ein interessanter Gedanke.
Dieses Kriterium der Zeit greift übrigens dann auch wieder beim Film. Wie gezeigt lässt der allerdings während seiner Darbietung weniger Selbstbestimmung zu. Aber auch bei ihm folgen natürlich die Gespräche über ihn. Es folgen Reflexionen und die Erinnerungen an einzelne Einstellungen und Situationen.
Den Betrachtenden die Freiheit des Blickes zu lassen macht für mich das Malen aus. Und doch reizt mich der Vielleicht – Einfluss auf die Zeit der Sehenden. Denn im besten Falle kann ich als Maler mit einem funktionierenden Bild irgendwann einmal einen womöglich schnellen Zeitfluss der Betrachterin oder des Betrachters verzögern.
Warum ich male.
Der Zeit Bilder in die Beine werfen – das reizt mich an der Malerei.
Eine gute Zeit!
Thomas Brill